7 Die mediale Nichtthematisierung rassistischer Tatmotive und die Diffamierung der Betroffenen

 

Einleitung

Wir klagen alle Zeitungen an, die die Täter-Opfer-Umkehr und die öffentliche Stigmatisierung und Marginalisierung der Betroffenen aktiv mitbetrieben haben.

Das Versagen der Medien im NSU-Komplex verdichtet sich in dem Begriff „Döner-Morde“. Die Nürnberger Zeitung erfand den Begriff am 31. August 2005. Zahlreiche Medien machten es ihr gleich und stellten die Česká-Mordserie unter diese Überschrift. Redaktionen quer durch das journalistische und politische Spektrum wirkten dabei mit, das rassistische Klischee zu verbreiten: DIE WELT (u.a. Feb. 2010), FAZ (u.a. Feb. 2008), Hamburger Abendblatt (u.a. Aug. 2011), SZ (u.a. Aug. 2011), Stern (u.a. Dez. 2009), Bild (u.a. April 2006), Focus (März 2010), DER SPIEGEL (u.a. Aug. 2011) und taz (u.a. Sept. 2006).

Mit dem Unwort „Döner-Morde“ wird nahegelegt, die Tathintergründe im sozialen, familiären und gewerblichen Umfeld der Opfer zu suchen. Oft wurden die Familien nicht als trauernde Angehörige dargestellt, sondern als verdächtige Mitwisser*innen oder sogar schweigende Mittäter*innen. Damit folgte die Zeitungsberichterstattung den Polizeiermittlungen gegen die Opferfamilien. Die politische Dimension der Mordserie wurde jahrelang verkannt und ignoriert. Die rassistisch geprägte polizeiliche Deutung wurde distanzlos übernommen – anstatt sie kritisch zu hinterfragen, wie es Aufgabe einer aufgeklärten Presse ist. Die Betroffenen wurden zu Projektionsflächen rassistischer Phantasien. Sie wurden zu Fremden gemacht und ihnen wurden jene Eigenschaften angedichtet, die die Mehrheitsgesellschaft von sich weisen will. Angeblich fremde Gewalt („Kamen die Täter aus der türkischen Türsteherszene?“), vermeintlich fremde Sexualität („Oder aus dem Rotlichtmilieu?“) und sogenannte Ausländerkriminalität wurden zu Erklärungen für die Taten erhoben. Die klaren Hinweise der Betroffenen und Opferangehörigen auf rassistische Motive wurden medial nicht wiedergegeben.

Wir klagen diese Berichterstattung an, weil die Opfer – in all ihrer Unterschiedlichkeit und in ihren unterschiedlichen Berufen wie Blumenverkäufer, Kleinunternehmer oder Internetcafé-Betreiber – ihrer Individualität und ihrer Geschichten beraubt und selbst verdächtigt wurden.

Wir klagen darüber hinaus die Berichterstattung über den NSU-Prozess durch diejenigen Journalist*innen an, die sich bis heute mehr für das Auftreten der Angeklagten interessieren, als für die Betroffenen des NSU-Terrors und die die Nebenkläger*innen und ihre Anwält*innen sogar beschuldigen, den Prozess zu instrumentalisieren. Wir klagen schließlich eine juristische Öffentlichkeit an, die davor warnt, dass eine Opferfoussierung die Wahrheitsfindung vor Gericht gefährde und so ein „fair trail“ bedrohe.[i] Als im Mai und Juni 2006 die Familien Yozgat und Kubaşık Demonstrationen in Kassel und Dortmund organisierten und mehrere tausend Menschen unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ auf die Straße gingen, machten sie ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Analysen öffentlich und wiesen auf die rassistische Motivation der Morde hin. Doch sie wurden von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert. Wir klagen auch die schweigende Mehrheit an, die das rassistische Morden nicht als solches wahrgenommen hat. Auch viele von uns waren blind für die Morde, die vor unseren Augen begangen wurden und taub gegenüber den Demonstrant*innen in Dortmund und Kassel oder den Bewohner*innen der Keupstraße. Die Worte, die Aysen Taşköprü, Schwester des ermordeten Süleymann Taşköprü, 2013 an den damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck richtete, richten sich auch an uns: „Die Menschen, die sich jetzt mit einem Bild von meinem Bruder zeigen, die behaupten uns zu kennen und in unserem Namen zu sprechen: Wo wart ihr 2001? Meine Nichte ist nicht erst seit 2011 Halbwaise, mein Bruder ist nicht durch seine Ermordung zu einem anderen Menschen geworden. Für uns klingt das wie Hohn. Damals hat niemand um meinen Bruder getrauert. Heute ist er Euch auf einmal so wichtig.“[ii]

 

Conny Neumann, Jg. 1961, Journalistin

Neumann berichtete in den Jahren 2005 bis 2011 für das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL kontinuierlich über die Česká-Morde. Nach der Fortsetzung der Mordserie in Bayern im Juni 2005 referierte sie den Stand der polizeilichen Ermittlungen noch wie folgt: „Für Spekulationen, die Getöteten könnten für die Mafia als Drogenkuriere oder Drogendeponenten gearbeitet haben, fehlen Beweise. Auf Kontakte der Opfer zu religiösen oder politischen Fanatikern gibt es nicht den geringsten Hinweis. Schulden werden ausgeschlossen, und für Schutzgelderpressungen waren die kleinen Läden der Einzelhändler wohl kaum geeignet.“ [iii]

Nach den Morden im April 2006 in Dortmund und Kassel reichen Neumann dann zwei bereits zuvor bekannte Information, um zu schreiben: „Die Waffe und das brutale Vorgehen sind es, die die Soko sicher sein lassen: Die Schützen sind Profis. Vermutlich handeln sie im Auftrag einer internationalen Organisation.“ Sodann spricht Neumann unter Verweis darauf, dass die „Familien oder Freunde“ der Polizei „nur das Nötigste“ sagen würden und angeblich nicht dazu bereit seien, die Polizei „einzuweihen“ von der „schwer durchdringbare[n] Parallelwelt der Türken“, die die Killer „schütze.“[iv]

Die Journalistin Neumann setzt diese Berichterstattung im Jahre 2009 fort, als sie hervorhebt, das „erstmals (…) ein plausibles Motiv (existiere), warum die Opfer erschossen wurden“. Daran knüpft sie die rhetorische Frage: „Ging es etwa um Wett- oder Spielschulden?“ Dass dafür, wie sie selbst schreibt, „die Polizei keine Beweise fand“, übergeht sie mit dem lapidaren Hinweis, dass das „wohl nicht viel zu sagen“ habe, denn: „In dem Milieu, in dem nun die Bochumer Staatsanwaltschaft ermittelt, werden keine Verträge geschlossen. Die Zocker wissen, wie viel sie verloren haben und wann Zahltag ist. (…). Und wer nicht zahlen kann, der wird übel zugerichtet.“[v]

Im Februar 2011 erscheint im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Artikel mit dem Titel „Düstere Parallelwelten“.[vi] Angesichts der unaufgeklärten Česká-Mordserie schreibt Neumann mit einem Kollegen über ein angebliches Netzwerk von türkischen Nationalisten, Gangstern und Geheimdienstlern. Zwar geben sie, wie viele andere Autor*innen zu, dass sie über keine gesicherten Erkenntnisse verfügen, doch stricken sie im Folgenden an einer hochspekulativen Erzählung mit. Die von der sog. „Besonderen Aufbauorganisation Bosporus“ in Auftrag gegebene Operative Fallanalyse, die einen „psychopathischen Türkenhasser“ als möglichen Einzeltäter nahelegt, wird zwar wahrgenommen, aber schnell verworfen. Hinter den Morden stünde vielmehr Geldwäsche, die Schüsse ins Gesicht seien für türkische Nationalisten Zeichen für den Verlust der Ehre. Es ist ein bitterer Treppenwitz der Geschichte, dass hier nicht deutsche, sondern ‚türkische Rechtsextreme‘ in den Fokus von Verdächtigungen geraten und der ‚tiefe Staat‘ als Produkt einer bis nach Deutschland reichenden türkischen Verschwörung vorgestellt wird; wirft der NSU-Komplex doch gerade ein Schlaglicht auf mögliche Strukturen eines tiefen Staates auch hierzulande.

Wir klagen Conny Neumann für die Herstellung einer Öffentlichkeit an, die die Anschlags- und Mordserie an Migrant*innen über zehn Jahre hinweg nicht als rassistisch motiviert erkennen konnte, sondern die Opfer und deren Angehörige im Einklang mit den Vorgaben der Ermittlungsbehörden zu Verdächtigen und vermeintlichen Täter*innen im Bereich der sog. organisierten oder politischen Kriminalität oder von kulturell begründeten Familienverbrechen erklärte.

 

Ulrike Pflüger-Scherb, Jg. 1971, Journalistin „Hessische/Niedersächsische Allgemeine“

Ayşe und İsmail Yozgat, die Eltern des 2006 ermordeten Halit Yozgat, fordern die Umbenennung der Holländischen Straße in Halit-Straße. In dieser Straße ist Halit Yozgat aufgewachsen, hier betrieb er das Internetcafé, in dem er unter nach wie vor ungeklärten und vertuschten Umständen ermordet wurde. Die Umbenennung der Straße ist für İsmail Yozgat seinen eigenen Worten zufolge, zur „Lebensaufgabe“ geworden. Die Stadt Kassel hat nur einen kleinen, vorher namenlosen Platz neben der Holländischen Straße als Halit-Platz benannt, ein Akt, den die Familie Yozgat immer wieder als nicht ausreichend bezeichnet hat.

Pflüger-Scherb berichtete als Lokalredakteurin der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen Kassel (HNA) über die Gedenkdemonstrationen und -initiativen der Familie Yozgat und der lokalen „Initiative 6. April“. Zur Forderung nach der Umbenennung der Holländischen Straße in Halit-Straße schreibt sie in einem Kommentar am 22.03.2014: „Die unrealistische Forderung von Yozgat nach einer Straßenumbenennung erzeugt mittlerweile nicht nur Unmut bei Menschen, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind. Schlimmer ist, dass sie die Position von jenen stärkt, die meinen, dass sich Ausländer hierzulande ohnehin zu viel herausnehmen. Ismail Yozgat ist mit seiner Position schlecht beraten. Ihm ist zu wünschen, dass er Menschen findet, die ihn davon überzeugen können.“[vii] Mit diesem Kommentar führt Pflüger-Scherb die Praxis der rassistischen Berichterstattung über die Morde des NSU fort. Sie macht Betroffene für den erlittenen Rassismus verantwortlich und spricht ihnen den Status als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ab. Sie delegitimiert die Forderung der Betroffenen und fordert dazu auf, sie zum Schweigen zu bringen.

Wir klagen Ulrike Pflüger-Scherb der rassistischen Berichterstattung und der Förderung eines Klimas der Ignoranz und des Zum-Schweigen-Bringens der Betroffenen des NSU-Terrors an.

 

Norbert Fuchs, Jg. 1949, Bezirksbürgermeister Köln-Mülheim

Fuchs (SPD) ist seit 1989 bis heute Bürgermeister des Kölner Bezirks Mülheim, in dem die Keupstraße liegt. Vor dem Nagelbombenanschlag war Fuchs einer der zahlreichen Stimmen, die die Keupstraße als Türkenstraße problematisierte und stigmatisierte. Die Frage vieler Opfer des NSU-Anschlages, wie die Zwickauer Zelle ausgerechnet auf die Keupstraße als Anschlagsziel kam, findet ihre Antwort auch in dem fortgesetzten Ghetto-Diskurs, der die Straße – eigentlich das wirtschaftliche Aushängeschild der türkischen Community in ganz NRW – als Ziel prädestinierte. Auch Fuchs befeuerte diesen Diskurs. Die Grundlage für den geplanten Massenmord in der Keupstraße war die Abwertung und Hervorhebung dieser Straße als „Problemstraße von Ausländern“. Als drei Jahre nach der Nagelbombe 2007 die Ladenbesitzer*innen der Keupstraße bei der Bezirksregierung um Unterstützung baten, antwortete Fuchs ihren Berichten zufolge „diesem Ghetto helfe ich nicht“.

2012, ein Jahr nach der Enttarnung des NSU, versuchte Fuchs ein angemessenes Gedenken, das von den Menschen der Keupstraße geplant wurde, zu ver- bzw. behindern. Nur widerwillig kooperierte er schließlich bei den Gedenkfeiern, die von höherer Stelle beschlossen wurden. Noch heute erklärt er die systematische Opfer-Täter-Umkehrung nach der Bombe 2004, die die Menschen auf der Straße jahrelang stigmatisierte und kriminalisierte, als korrekte Polizeiarbeit: „Diese Straße, die war vor Jahrzehnten auch schon mal ein krimineller Brennpunkt, und da konnte man natürlich auch schon mal in die Richtung ermitteln, dass da möglicherweise irgendwelche Drogenkartelle dahinterstanden – also ganz abwegig war das nicht.“ [viii]

Wir klagen Norbert Fuchs an, die Opfer des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße über die Verbreitung eines Ghettodiskurses verwundbar gemacht zu haben. Wir klagen ihn an, das Gedenken an das Verbrechen des NSU behindert und die Opfer im Stich gelassen zu haben.

 

Gisela Friedrichsen, Jg. 1945, Reporterin

Friedrichsen war bis 2016 Gerichtsreporterin beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, seither bei der Tageszeitung Die Welt. Sie berichtet regelmäßig über den NSU-Prozess vor dem OLG München. Im SPIEGEL beschrieb sie 2014 den Gerichtssaal u. a. mit den Worten: „das übermächtige Forum der Opfer und deren Anwälte“[ix] und suggeriert damit eine Stellung der Betroffenen im Prozess, die der Realität widerspricht. In den Auseinandersetzungen zu den Betroffenen der Keupstraße und den hier engagierten Rechtsanwält*innen der Nebenklage glaubt sie, unter Hinweis auf „schwarze Schafe unter den Anwälten der Nebenklage“, die „Frage“ aufwerfen zu können, „ob der Gesetzgeber die Berechtigung zur Nebenklage nicht doch zu weit ausgedehnt hat.“ Den Bericht einer hochschwangeren Anwohnerin, die durch die Bombe gesundheitlich beeinträchtigt wurde, stellte sie in Frage. Aufgrund eines Einzelfalles über eine unklare Mandantschaft in der Nebenklage, erscheint ihr in dem Strafverfahren „das Institut der Nebenklage insgesamt (…) auf diese Weise in Verruf“ zu geraten. Vor diesem Hintergrund insinuiert sie mit einer rhetorischen Frage, ob sich der Strafsenat des OLG gegenüber den Opfern nicht als zu „großzügig“ erwiesen habe. In einer später publizierten Reportage gilt ihr diese Frage auch rhetorisch als bereits beantwortet, wenn sie schreibt: „Ihre Großzügigkeit gegenüber mutmaßlichen Opfern kostet die Justiz jetzt einen hohen Preis.“[x]

Auch das Einführen rassistischer Ressentiments in ihre Reportagen ist Gisela Friedrichsen nicht fremd, wenn sie vermerkt: „Türken wird oft nachgesagt, große Geschichtenerzähler zu sein.“ Daran schließt sie eine Sortierung der Betroffenen an: „Doch wenn in einem Strafverfahren, in dem den Opfern ohnehin ungewöhnlich viel Raum gegeben wird, auch Personen präsentiert werden, die im Vergleich zu anderen kaum »Opfer« zu nennen sind, fällt ein Schatten auf die gesamte Nebenklage.“[xi]

Wir klagen Gisela Friedrichsen an, mit ihrer Berichterstattung über den NSU Prozess rassistische Ressentiments zu bedienen.

 

Holger Schmidt, Jg. 1971, „ARD-Experte für Terrorismus und Innere Sicherheit“

Der für den Südwestrundfunk (SWR) arbeitende Journalist Schmidt berichtet kontinuierlich von der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Immer wieder transportiert er in zentralen Sachverhalten unkritisch die Positionen der Sicherheitsbehörden oder macht sie sich sogar zu eigen, wenn es darum geht, zentral abweichende Erkenntnisse anderer Journalist*innen oder von Anwält*innen der Nebenklage zu desavouieren.

In der Tagesschau führte Schmidt aus, einige Nebenklageanwält*innen würden zu „hohe Erwartungen bei ihrer Mandantschaft schüren“ und diese für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Diese Zwecke seien: „den verhassten Behörden BKA und ‚BAW‘, wie der Generalbundesanwalt von Linksanwälten gerne genannt wird, in die Parade zu fahren (und) quasi nach Gutdünken eine Art Privatinquisition zu betreiben, gegen die ja keiner etwas haben kann, weil die Ziele ja Nazis sind oder sein sollen.“ Weiter warnt er „vor ,Gutmenschen’, für die nicht die Objektivität des Verfahrens die Richtschnur ist, sondern, die richtige und wichtige Sache, um die es vermeintlich geht.“ Abschließend empfiehlt er den Anwält*innen, den Betroffenen in Ruhe zu erklären, „dass der NSU-Prozess nicht mehr und nicht weniger als ein Strafprozess ist. Und warum das in einem Rechtsstaat normal und trotz mancher Enttäuschung gut so ist.“ [xii]

Diese Darstellung zeichnet, ob absichtlich oder unbewusst, ein diskriminierendes Bild der Nebenkläger*innen als maßlos fordernd, undemokratisch und mit den Grundsätzen des deutschen Rechtsstaates nicht vertraut. Sie unterschlägt, dass keine*r der Nebenklage-Anwält*innen das Recht der Angeklagten auf ein rechtsstaatliches Verfahren bestreitet. Sie unterschlägt weiter, dass die Betroffenen im Prozess, trotz der hohen Anzahl von Nebenkläger*innen, eine sehr verletzliche Position und sehr wenig Raum haben; und schließlich unterschlägt Schmidt, dass die Opferangehörigen bei Aussagen durch das Gericht unterbrochen wurden, sehr zurückhaltend auftreten oder dem Prozess aufgrund der einschüchternden Atmosphäre fernbleiben.

Wir klagen den „Terrorismusexperten“ Holger Schmidt an, den Prozess zu entpolitisieren sowie die wichtige und zulässige Arbeit der Nebenklage zu schwächen.

 

Wolfgang Schäuble, Jg. 1942, Bundesinnenmister 2005 – 2009

Schäuble zeigte sich anlässlich der Vorstellung des VS-Berichts über den Berichtszeitraum 2005 am 22. Mai 2006 – rund zwei Monate nach den Morden des NSU in Dortmund und Kassel – in der Bundespressekonferenz erfreut, dass „die durch die Beobachtung des Verfassungsschutzes und den Verfolgungsdruck der Strafverfolgungsbehörden erzielten Erfolge gegen die rechtsextremistische Szene“ durch einige „Urteile der Justiz untermauert“ worden seien. In diesem Jahresbericht behauptete das BfV wider besseres Wissen, dass „der überwiegende Teil der rechtsextremistischen Szene (…) aus taktischen Gründen Gewaltanwendung zur Systemüberwindung ab(lehnt). Eine terroristische Vereinigung gilt als allzu leicht zu enttarnen, ein Terroranschlag als wenig erfolgversprechend. Darüber hinaus befürchtet man, terroristische Aktivitäten könnten verstärkte staatliche Kontroll- und Fahndungsmaßnahmen auslösen und so den eigenen Handlungsspielraum weiter beschränken.“ [xiii] Auch in dem im Mai 2007 von Schäuble in der Bundespressekonferenz für den Berichtszeitraum 2006 vorgestellten VS-Bericht wird unmissverständlich und lapidar festgestellt: „Rechtsterroristische Strukturen waren 2006 in Deutschland nicht feststellbar.“

Wir klagen Wolfgang Schäuble der Herstellung einer medialen Öffentlichkeit an, die die Anschlags- und Mordserie gegen Migrant*innen nicht als rassistisch motiviert erkennen konnte.

 

Markus Peters, Jg. 1965, Korrespondent des Deutschen Depeschen Dienstes

Als im Juni 2004 die Nagelbombe in der Keupstraße explodierte, sagte ein Obstverkäufer einem Reporter des Deutschen Depeschen Dienstes (ddp): „Das waren Nazis, wer sonst?“. Keine 24 Stunden nach dem Anschlag sendete der ddp, eine der vier großen deutschen Nachrichtenagenturen, ein Feature seines Korrespondenten Peters an die Redaktionen. Dem zutreffenden Hinweis des Obstverkäufers wurde nicht nachgegangen; vielmehr tauchten die im Bericht enthaltenen Stigmatisierungen im Laufe der nächsten zwei Jahre in der Berichterstattung nahezu aller Medien auf. Diese verstärkten die rassistischen Stereotype, mit denen die Ermittler*innen die Betroffenen belegten. Schon am Abend des Anschlags stürmte ein Sondereinsatzkommando ein Haus in der Keupstraße. Der Bewohner wurde bald wieder freigelassen, weil er mit der Tat offensichtlich nichts zu tun hatte. Diese Razzia war Auftakt einer ganzen Serie von Durchsuchungen in Köln-Mülheim. Peters orchestriert dies, indem er schreibt: „Mülheim ist immer noch ein sozialer Brennpunkt der Domstadt, doch das ‚Veedel‘ macht sich.“ Die Polizei habe die Keupstraße auf dem Stadtplan dick unterstrichen. Illegale Geschäfte um Glücksspiel, Schutzgeld-Erpressungen und immer wieder Drogen beschäftigten die Ermittler: „Bekannt sind Machtkämpfe zwischen türkischen und kurdischen Banden, Albanern und immer mehr Osteuropäern. Auch sorgt die kriminelle Türsteher- und Rotlicht-Szene immer wieder für Aufregung im Viertel. Sie schreckt auch nicht vor spektakulären Aktionen wie Schießereien auf offener Straße und Explosionen zurück. Eine Welt, in der die Polizei aufgrund der Kultur- und Sprachgrenzen kaum Einblicke gewinnt. Auch dem Kölner Staatsschutz ist die Keupstraße bekannt.“ [xiv]

Wenig später setzt der ddp weitere Berichte von Peters ab. Unter Berufung auf Oberstaatsanwalt Rainer Wolf meldet er: „Derzeit lägen keine Hinweise auf einen fremden- feindlichen oder terroristischen Hintergrund der Tat vor.“[xv] Es gebe keine Veranlassung, das Verfahren an den Generalbundesanwalt abzugeben. Die Mordkommission sehe auch keine Parallelen zu dem Anschlag auf ein deutsch-iranisches Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse. Die Taten unterschieden sich in der Begehungsweise und der Art der verwendeten Bomben. Dabei handelte es sich ebenfalls um einen selbstgefertigten Sprengsatz. Mehr noch: „Die Gemeinsamkeit sei, dass in beiden Fällen Ausländer zu Opfern wurden“ [xvi] – eigentlich Grund genug, Rassismus als mögliches Motiv und Nazis als mögliche Täter*innen in die Ermittlungen einzubeziehen.

Wir klagen Markus Peters an, die rassistisch geprägten Ermittlungsansätze der Polizei bereitwillig reproduziert zu haben und mit ihrer Verbreitung an der Herstellung einer medialen Öffentlichkeit mitgewirkt zu haben, die die Anschlags- und Mordserie an Migrant*innen nicht als rassistisch motiviert erkennen konnte.

 

Peter Schilder, Jg. 1950, Journalist

Schilder arbeitete zur Zeit des Anschlags auf die Kölner Keupstraße als NRW-Landeskorrespondent der FAZ. Unter Verweis auf die Feststellung des damaligen Bundesinnenministers Schily (s. gleichnamigen Eintrag), dass es sich „vermutlich nicht um einen terroristischen Anschlag“ handele, konstatierte er in seinem Bericht zum Bombenangriff zunächst „eine gewisse Erleichterung in Köln“. Den von Schily immerhin noch gebrauchten Zusatz, „die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen“, ignorierte Schilder. Die von einigen Anwohner*innen geäußerte Hypothese, dass „Rechtsextremisten hinter der Tat“ stünden, qualifizierte er als „Mutmaßungen und Spekulationen“ ab. Unmissverständlich schloss er sich der Definition der Sicherheitsbehörden an: „Die Polizei schloss einen fremdenfeindlichen Hintergrund der Tat jedenfalls aus.“ Stattdessen machte es sich Schilder zur Aufgabe, neue Tathinweise zu generieren: „Es gibt in der Keupstraße auch die andere Seite des farbenfrohen orientalischen Flairs, nämlich Glücksspiel, Schutzgelderpressungen, Rauschgifthandel und Machtkämpfe zwischen Türken, Kurden, Albanern, Serben und Bosniern. Gelegentlich kommt es in Köln auch zu Schießereien. Die Ermittlungen sind dann nicht leichter als im terroristischen Umfeld. Bei den kriminellen Organisationen handelt es sich oft um ‚geschlossene Gesellschaften‘, die für deutsche Sicherheitsbehörden kaum zugänglich sind.“[xvii] Einen Tag später beschreibt Schilder in der gedruckten Fassung dieses Beitrags den naziterroristischen Angriff nur noch mit der eigentümlichen Formulierung „allgemeindeliktischer Hintergrund.“[xviii]

Wir klagen Peter Schilder der Herstellung einer medialen Öffentlichkeit an, die die Anschlags- und Mordserie an Migrant*innen nicht als rassistisch motiviert erkennen konnte.

 

Otto Schily (SPD), Jg. 1932, Bundesinnenminister 1998-2005

Schily teilte in dem Mitte Mai 2005 von ihm vorgestellten VS-Bericht für den Berichtszeitraum 2004 unmissverständlich mit: „Die Sicherheitsbehörden fahnden und er- mitteln in Deutschland mit unablässiger Intensität, um terroristische Strukturen zu erkennen und zu zerschlagen.“[xix] Ein Jahr zuvor hatte Schily bei dem Bombenangriff auf die Keupstraße keine „terroristischen Strukturen“ erkennen können. Am Tag nach dem Anschlag war der Presse die folgende Einschätzung des ihm unterstellten BfVs zu entnehmen: „Geheimdienst sieht Kriminelle am Werk – Köln, 10. Juni (Reuters) – Nach dem Anschlag mit einer Nagelbombe gehen die Geheimdienste von einem kriminellen Hintergrund der Tat aus, bei der am Mittwoch in Köln 22 Menschen verletzt wurden. Die Ermittlungen gehen nach wie vor in Richtung ‚organisierte Kriminalität‘, sagte ein Sprecher des Bundesamts für Verfassungsschutz am Donnerstag.“[xx] Noch am gleichen Tag erklärte Schily in der Tagesschau: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, sodass ich eine abschließende Bewertung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“[xxi] Diese Formulierung war geschickt gewählt: An die deutlichen Markierungen, es gebe keinen „terroristische[n] Hintergrund“, sondern ein „kriminelles Milieu“ sei verantwortlich, hängte Schily wohlformulierte salvatorische Klauseln und zog sich damit trotz tendenziöser Aussagen – auch nach Bekanntwerden des NSU – aus der Affäre: Da „zum damaligen Zeitpunkt die Existenz einer terroristischen rechtsradikalen Gruppe nicht bekannt war“, habe sich „der Ausdruck ,,terroristischer Hintergrund“ in seiner Erklärung ausschließlich auf den ,,islamistischen Terrorismus” bezogen.“[xxii]

Wir klagen Otto Schily der Herstellung einer medialen Öffentlichkeit an, die die Anschlags- und Mordserie an Migrant*innen über zehn Jahre nicht als rassistisch motiviert erkennen konnte.

 

->>> 8 Die behördliche Verhinderung vollständiger Aufklärung durch Beweisvernichtung und Vertuschung
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[i] Strafverteidigervereinigung NRW, “Opferfokussierung gefährdet Wahrheitsfindung, Presserklärung vom 07.05.2013, abrufbar: www.strafverteidigervereinigung-nrw.de/index.php?article_id=29.

[ii] Zitiert nach Abdruck in: http://www.abendblatt.de/politik/article113679608/Der-Brief-der-Schwester-des-Hamburger-NSU-Opfers.html

[iii] Conny Neumann und Andreas Ulrich, Soko Halbmond jagt mysteriösen Serienmörder / Ein geheimnisvoller Serienkiller tötet unbescholtene türkische Ladenbesitzer von München bis Rostock. Schon sechs Menschen wurden Opfer des Unbekannten. Es gibt nur eine Spur: die Pistole, auf: SPON vom 13.6.2005, URL: http://www.spiegel.de/panorama/verbrechen-soko-halbmond-jagt-mysterioesen-serienmoerder-a-360166.html

[iv] Guido Kleinhubbert, Conny Neumann, Die Spur der Ceska / In einer beispiellosen Mordserie wurden neun eingewanderte Kleinunternehmer mit derselben Pistole getötet. Doch Landsleute und Familien schweigen – wohl aus Angst vor den Killern, in: SPIEGEL Nr. 16 vom 15.4.2006, Seite 46 – 50, URL: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/46637169

[v] Conny Neumann, Sven Röbel, Andreas Ulrich, Mysteriöse Erschießungen. Spur der Döner-Mörder führt zur Wettmafia, in: SPIEGEL Online vom 12.12.2009, URL: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/mysterioese-erschiessungen-spur-der-doener-moerder-fuehrt-zur-wettmafia-a-666670.html

[vi] Conny Neumann, Andreas Ulrich, Düstere Parallelwelten, in: SPIEGEL Nr. 8 vom 21.02.2011, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-77108510.html

[vii] Ulrike Pflüger-Scherb, Kommentar zum Wunsch von Ismail Yozgat: „Schlecht beraten“, in: HNA vom 22.03.2014, URL: https://www.hna.de/kassel/kommentar-wunsch-nach-umbenennung-hollaendischen-strasse-3430037.html

[viii] http://www.deutschlandfunkkultur.de/nsu-wir-haben-euch-zu-taetern-gemacht.1001.de.html?dram:article_id=288460

[ix] Friedrichsen, Der Rassist im Kettenhemd, Spiegel Online vom 10.07.2014, abrufbar: www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-rechtsextremist-thomas-g-sagt-aus-a-980382.html: “Der Senat, geschlossen Seit‘ an Seit‘ im Halbrund, daneben die roten Roben der Bundesanwaltschaft, sich unmittelbar anschließend das übermächtige Forum der Opfer und deren Anwälte – und dagegen die fünf Angeklagten, die zwischen ihren Anwälten in ihrer Unauffälligkeit zu verschwinden scheinen.”

[x] Gisela Friedrichsen, Angebliches Opfer im NSU-Prozess Ein immenser Schaden / Eins der Opfer der rechtsextremen NSU existiert offenbar gar nicht. Diese Enthüllung wird den NSU-Prozess nicht gefährden. Sie ist jedoch für die wirklich Geschädigten ein großer Ärger, auf: SPON vom 3.10.2015, URL: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/angebliches-opfer-im-nsu-prozess-was-der-eklat-bedeutet-a-1056000.html

[xi] Gisela Friedrichsen, NSU-Anschlag in Köln „Was ich sah, war fürchterlich“ / Opfer und Augenzeugen machen die grausamen Folgen des NSU-Anschlags in der Kölner Keupstraße deutlich. Im Münchener Prozess sorgten Anwälte der Nebenklage dafür, dass zwei Fachleuteüber die Leiden ihrer Mandantin aussagten. Hilfreich war das nicht, auf: SPON vom 22.1.2015, URL: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-opfer-des-anschlags-in-koeln-keupstrasse-sagen-aus-a-1014490.html

[xii] Schmidt, Ein Jahr NSU-Prozess: Anwälte schüren zu hohe Erwartungen, tagesschau.de vom 6. Mai 2014, abrufbar: web.archive.org/web/20140509100942/http://www.tagesschau.de/kommentar/nsuprozess200.html

[xiii] Bundesamt für Verfassungsschutz« (BfV) Jahresbericht 2005, S. 8 und S. 57

[xiv] ddp 10.06.2004 13:07 Kriminalität/Anschlag/FEA/

[xv] ddp 10.06.2004 14:46 Kriminalität/Anschlag/ZFF1/

[xvi] ddp 11.06.2004 13:04 Kriminalität/Anschlag/ZF1/

[xvii] Peter Schilder, Kölner Bombenanschlag „Keine Anzeichen für einen terroristischen Hintergrund“ / Der Bombenanschlag von Köln, bei dem am Mittwoch 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, hat offenbar keinen terroristischen Hintergrund. Das bestätigte auch Innenminister Schily, in: FAZ.Net vom 10.6.2004, URL: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/koelner-bombenanschlag-keine-anzeichen-fuer-einen-terroristischen-hintergrund-1160707.html

[xviii] Peter Schilder, „Allgemeindeliktischer Hintergrund“ in: FAZ vom 11.6.2004, S. 9

[xix] Bei der Vorstellung des Jahresberichtes des Bundesamt für Verfassungsschutz« (BfV) Jahresbericht 2004, S. 4

[xx] Stefan Aust, Dirk Laabs, Heimatschutz a.a.O., S. 590. Siehe auch: O.N., Kriminelle Banden im Visier der Ermittler / Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass die Explosion eines mit Nägeln gespickten Sprengsatzes in Köln-Mülheim keinen terroristischen Hintergrund hat, auf: SPON vom 10.6.2004

[xxi] Otto Schily, Statement in der Tagesschau vom 10.6.2004 20.00 Uhr, siehe: Vorhalt von S. Edathy in der Vernehmung von Bundesinnenminister a. D. Otto Schily, in: BT-UA-NSU-PROT 60. Sitzung vom 15.3.2013, S. 32

[xxii] So auch seine Stellungnahme im Kölner Stadtanzeiger vom 10.11.2014, siehe dazu auch die Protesterklärung: 30 Vertreterinnen der Nebenklage aus dem NSU-Strafprozess und die Initiative “Keupstrasse ist überall”, Offener Brief an den ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily, vom 27.11.2014, URL: http://keupstrasse-ist-ueberall.de/offener-brief-an-den-ehemaligen-bundesinnenminister-otto-schily/