Hintergrund: Der Mordfall Lübcke und der NSU-Komplex

„Es hört ja nicht auf. Erst die Drohmails gegen meine Anwältin, Seda Başay-Yıldız, dann der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Das alles macht mich so wütend! (…) „Kassel ist eine Neonazi-Hochburg. (…) Wir haben (im NSU-Strafprozess vor dem OLG München) immer wieder geschrien: Es gibt noch andere Leute! Aber auf uns wurde nicht gehört. Es wurde immer so dargestellt, dass der NSU nur aus drei Leuten besteht – aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Aber für mich ist ganz klar: Das ist ein Netzwerk. Die Familie Lübcke tut mir furchtbar leid. Ich bin fest davon überzeugt, dass der NSU und der Mord an Herrn Lübcke miteinander verstrickt sind. Da steckt mehr dahinter.“

Abdulkerim Şimşek, Sohn des am 9. September 2000 in Nürnberg durch den NSU ermordeten Enver Şimşek am 11. Juli 2019

 

Vor dem OLG Frankfurt wird am Dienstag, den 16. Juni gegen die Nazis Stephan Ernst und Markus Hartmann ein Staatsschutzverfahren wegen des Mordes an Walter Lübcke im Juni 2019 und einem Mordversuch an dem irakischen Flüchtling Ahmad E. im Januar 2016 in Lohfelden eröffnet.

Der Mord an Lübcke im Juni 2019 wurde in der Tatbegehung im Modus Operandi des NSU begangen: Die Mörder schlichen sich an das arglose Opfer an, und der Kopfschuss wurde ohne Interaktion mit ihm aus nächster Nähe abgegeben. Es gab keine formale Bekennung zur Tat. Der Mord wurde sofort von der rechten Szene verstanden und im Netz sowie auf PEGIDA­-Veranstaltungen gefeiert. Auf einer unmittelbar nach dem Mord anberaumten Pressekonferenz wurde von den Sicherheitsbehörden, namentlich von Generalstaatsanwalt Horst Streiff und LKA-Chefin Sabine Thurau Fragen von Journalisten über mögliche Zusammenhänge zu der seit 2015 laufenden Hetzkampagne von Rechten gegen Lübcke mit Aussagen wie: „Das kann ich nicht bestätigen (…) kein Motiv im Zusammenhang mit Flüchtlingskrise (…) kein Bezug zur jetzigen Tat“ abgewehrt. Erst durch den Abgleich mit DNA-Spuren vom Tatort konnten kurze Zeit später die seit Jahrzehnten bis in die jüngste Gegenwart in der Nazi-Szene hervorragend vernetzten Stephan Ernst (Jg. 1973) und Markus Hartmann (Jg.1976) sowie Elmar Johannwerner (Jg. 1955) als Waffenlieferant, als mutmaßliche Täter ermittelt werden.

Hartmann war schon nach dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 2006 im Internet-Cafe Kassel von der Polizei vernommen worden, weil er die Webseite, auf welcher das BKA über die Mordserie informierte, häufig besucht. Das Internetcafe war zuvor von Corryna Goertz ausgekundschaftet worden, die  schon in den 1990er Jahren auf einer Liste des LKA Thüringen  neben Beate Zschäpe aufgetaucht war, in der vor  „besonders gefährlichen“ Nazis in Thüringen gewarnt wurde. Obwohl Hartmann in seiner Vernehmung angibt, das Opfer zu kennen, wird er zu seinem Engagement in der Naziszene nicht befragt. Auch nachdem sich der NSU im November 2011 selbst enttarnt, bleibt er von Ermittlungen verschont. (Exif v. 1.3.2020)

Ernst ist tief in der Kasseler Naziszene verankert. Bei NPD-Wahlkämpfen arbeitete er mit  Mike Sawallich (Jg. 1981) zusammen und bei Schlägereien tritt er dem späteren führenden Combat-18 Aktivisten Stanley Röske (Jg. 1976), auf, so zum Beispiel beim Angriff am Rande der Wehrmachtsausstellung 2003 in Neumünster und schließlich zusammen mit 400 weiteren Neonazis bei dem Angriff auf die 1. Mai-Kundgebung des DGB 2009 in Dortmund.

Das Signal des NSU-Urteils verstanden auch Ernst und Hartmann: Amnestie 

In einem politischen Sinne nimmt der wenigstens von Ernst und Hartmann verübte Mord an Lübcke direkten Bezug sowohl zu der seit 2015 von Hartmann und Ernst gestarteten Hetzkampagne gegen den Flüchtlingshelfer Lübcke als auch zu der mündlichen Urteilsverkündung des OLG München im Juli 2018. Von Hartmann, der zusammen mit Ernst an einer Veranstaltung zu Fragen der konkreten Flüchtlingsunterbringung in Lohfelden im Oktober 2015 teilnahm, war ein Video des Redeausschnittes von Lübcke ins Netz geladen worden. Dieses Video wurde sowohl vom AfD-Bundesvorstand wie auch von Vorstandsvorsitzenden der Desiderius-Erasmus-Stiftung Erika Steinbach (Jg. 1943) über Jahre hinweg verbreitet und zog auf deren Accounts eine Ansammlung von Todesdrohungen gegen Lübcke nach sich. Der Rassist Akif Pirinçci (Jg. 1959) bedauerte auf einer Kundgebung von PEGIDA in Dresden fünf Tage nach der Veranstaltung in Lohfelden mit expliziten Bezug auf Walter Lübcke, dass „die KZs (…) ja leider derzeit außer Betrieb“ seien.

Die Urteilsverkündung des OLG München im Juli 2018 unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl (Jg. 1953) kam mit dem De-facto Freispruch des vierten Mitglieds des NSU André Eminger und einer expliziten Nicht-Erwähnung der bedeutenden Rolle des V-Mannführers des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme (Jg. 1967 ) im NSU-Komplex einer Amnestie für das Netzwerk von Kameraden gleich.

Dieses Signal wurde auch von Ernst und Hartmann verstanden. Gemeinsam mit Andreas Kalbitz, Björn Höcke und Jörg Orban nahmen sie am sogenannten „Trauermarsch“ am 1. September 2018 in Chemnitz teil – eine Manifestation die einen Schulterschluss unterschiedlicher Fraktionen der völkischen Rechten im Land symbolisierte

Nach der Verhaftung von Ernst und Hartmann wurde von dem hessischen Innenminister Peter Beuth (Jg. 1967) die Mär verbreitet, es handele sich bei beiden um seit Jahren „abgekühlte Extremisten“. (FAZ v. 18.9.2019) Diese Aussage ist gelogen, und sie kommt der von den Sicherheitsbehörden wenige Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 generierten Erfindung gleich, es handele sich hier lediglich um drei Einzeltäter.

Zu einem Mord, der in der BRD von einem Rechten begangen wird, gehört ein rechter Verfassungsschützer, der hin – und wegsieht und ein rechter Richter, der freispricht

Den Sicherheitsbehörden lagen bis in die jüngste Gegenwart hinein Hinweise auf Ernst und Hartmann zu ihren politischen Aktivitäten, Waffen, sowie ihre NSU-­Bezüge vor. Schon unmittelbar nach dem Mordanschlag auf Ahmed I. war Ernst 2016 unter Verdacht geraten. Online postete er später: „Entweder diese Regierung dankt in Kürze ab oder es wird Tote geben.“

Zwischenzeitlich sind die vom LfV Hessen für Ernst und Hartman angelegten „Personen-­Akten“ sowie Akten zu Personen und Strukturen rund um beide bis heute in Gänze für geheim erklärt. Sie sind ebenso für die Öffentlichkeit gesperrt wie der überwiegende Teil des von der Abteilungsleiterin Dr. Iris Pilling (Jg. 1962) erarbeiteten sogenannten „120-­Jahre NSU-­Geheimberichtes“ des hessischen Verfassungsschutzes, in dem Stephan Ernst elfmal namentlich auftaucht. Die Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs äußerten hier die begründete Vermutung, dass sich in dem Pilling-Bericht „praktisch alle Neonazis im Umfeld des Lübcke-Mörders wiederfinden (dürften) – und deren V-Leute, bei denen ohnehin nicht immer klar ist, auf welcher Seite sie tatsächlich stehen und für welche Sache sie kämpfen.“ (Welt am Sonntag v. 30.6.2019)

Unsere und die Erfahrungen der Angehörigen des NSU-Mord- und Anschlagopfer mit dem agieren des Staatsschutzsenates des OLG München im Strafverfahren gegen wenige Beteiligte des NSU waren bitter. Der Urteilsspruch von München hat die Hypothesenbildungen des bedeutenden Justizkritikers in der Weimarer Republik Emil J. Gumbel über die Praxis der Strafverfolgung rechter Gewalt in Deutschland bestätigt. In leichter Abwandlung und Aktualisierung von Gumbel ist zu sagen: Zu einem Mord, der in der Bundesrepublik von einem Rechten begangen wird, gehört ein rechter Verfassungsschützer, der hin – und wegsieht und danach ein rechter Richter, der dann freispricht. Darin besteht das Fortleben und die Aktualität des NSU-Komplexes.

Es gibt kaum einen Grund anzunehmen, dass sich diese Situation in dem nun anstehenden Strafverfahren gegen Ernst und Hartmann durch das OLG Frankfurt grundsätzlich anders darstellt. Um einiges begründeter ist allerdings davon auszugehen, dass sich die Erfordernisse der hessischen Sicherheitsbehörden nach Geheimschutz, wie schon bei den Ermittlungen zum NSU-­Mordopfer Halit Yozgat, Vorrang gegenüber der vorbehaltlosen Aufklärung der Hintergründe der angeklagten Verbrechen, verschaffen werden.  Direkter formuliert: Das „Netzwerk von Kameraden“ aus der heraus  der Mordanschlag auf den Flüchtling Ahmad E. und Walter Lübcke verübt worden ist, kann auch heute noch auf Protektion der Sicherheitsbehörden rechnen.

Gegen die Wiederholung der Linie des OLG München durch das OLG Frankfurt! Gegen die politische Linie: Eminger – Temme – Götzl in dem Strafverfahren gegen die Nazis Stephan Ernst und Markus Hartmann!