Forensic Architecture

Gehört und Gesehen

Forensische Analyse belastet den Ex-Geheimdienstler Andreas Temme

Neue Erkenntnisse des renommierten Londoner Forensik-Instituts „Forensic Architecture“ zum Mord an Halit Yozgat durch den NSU im Jahre 2006 bringen auch den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier in Bedrängnis. Dieser hatte den hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme 2006 voreilig als unschuldig erklärt und eine Vernehmung seiner V-Männer untersagt. Beobachter*innen der Untersuchungsausschüsse sprechen von einer „Behinderung der Aufklärung“.

Temme, der zur Tatzeit im Internetcafé anwesend war, hatte wiederholt erklärt, dass er beim Verlassen des Cafés den ermordeten Halit Yozgat nicht gesehen habe. Die noch laufende forensische Untersuchung durch Forensic Architecture hinterfragt die Glaubwürdigkeit dieser Aussage und versucht zu klären, ob der Ex-Geheimdienstler Zeuge des Mordes war. Erste Ergebnisse wurden im Rahmen einer Pressekonferenz der „Initiative 6. April“ am Donnerstag bekanntgeben. Beauftragt hatte das unabhängige Forschungsinstitut das Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“, das im Mai ein Tribunal zum NSU-Komplex organisiert.

Interdisziplinäre Expertise

Das Team um Institutsleiter Eyal Weizmann trug sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen zusammen und spielte alle denkbaren Szenarien durch. Ergänzend wurden drei sensorische Spezialuntersuchungen durchgeführt. Mithilfe eines modellhaften 1:1-Nachbaus des Internetcafés und von Computersimulationen konnten die Sichtachsen am Tatort rekonstruiert werden. Dank eines geleakten Videos, das Temme bei einer Tatortbegehung durch das LKA Hessen zeigt, konnte die offizielle Version des Geheimdienstlers nachgestellt werden. Das Computermodell macht deutlich, wohin der Blick Temmes ging und was er gesehen haben muss. Das Ergebnis: Temme muss selbst auf Basis seiner eigenen Schilderung des Geschehens Halit Yozgat tot am Boden liegend gesehen haben. Ein Schallgutachten untersuchte außerdem, wie laut eine der Tatwaffe baugleiche Česká CZ 83 mit Schalldämpfer im Internetcafé war. Das Gutachten ergab, dass der Schuss deutlich wahrnehmbar sein musste. Ein Gutachten, das die Verteilung des Schießpulvers und dessen geruchliche Wahrnehmung analysiert, ist noch nicht ausgewertet. Die finalen Ergebnisse werden im Mai auf dem Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘ in Köln präsentiert.

Gerichtsfestes Material soll der Aufklärung dienen

Tim Klodzko, Pressesprecher des Tribunals ‚NSU-Komplex auflösen‘, erklärt hierzu: „Mit der forensischen Analyse möchten wir die Nebenklage im NSU-Prozess unterstützen und weiteres gerichtsfestes Material anbieten. Die Beweisanträge der Nebenklagevertretung werden allzu häufig durch das Gericht blockiert. Wir freuen uns daher besonders, gestern erfahren zu haben, dass das Gutachten am 10. Mai 2017 auch in München vor dem Oberlandesgericht präsentiert werden soll.

Die lückenlose Aufklärung insbesondere der Verwicklungen von Staatsbeamten muss dringend weiter voran getrieben werden. Das Tribunal ist eine Reaktion auf das Versagen des Staats, den Opfern und Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wo die Justiz versagt, nehmen wir diesen Faden auf und rufen dazu auf eine gemeinsame, gesellschaftliche Anklage zu formulieren.“

Forderungen der Familie ignoriert

Florian Werler, Mitglied der Initiative 6. April, die sich zum Gedenken an Halit Yozgat im Jahr 2012 gegründet hatte, erklärt: „Die Forderung nach der Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße wird ebenso seit vielen Jahren ignoriert wie die wiederholte Aufforderung der Familie, die Rolle von Andreas Temme im Mordfall zu rekonstruieren. Was im Prozess bis jetzt ausblieb, liefern wir nun mit der Untersuchung nach. Das Wissen und die Forderungen der Betroffenen um die rassistische Mord- und Anschlagsserie stellte dabei sich wieder einmal als fundamental und zentral für die Aufklärung heraus.“ Der Vater des ermordeten Halit Yozgat, İsmail Yozgat, erklärte in den letzten Jahren wiederholt: „Temme lügt, entweder er deckt die Täter oder er war selbst an dem Mord beteiligt.“ Auf der letztjährigen Gedenkkundgebung erklärte er: „Sollte es keine Vor-Ort-Besichtigung des Gerichts geben, werden wir das Urteil dieses Gerichts nicht anerkennen.“

Kein nächstes Opfer

2006 hatte die Familie Yozgat eine Demonstration mit 4.000 Teilnehmenden in Kassel organisiert, unter dem Titel „Kein 10. Opfer“. Halit Yozgat war das neunte Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), der zum damaligen Zeitpunkt der Öffentlichkeit noch nicht bekannt war. Die Familie hatte schon damals die rassistische und terroristische Dimension der sogenannten „Česká-Mordserie“ erkannt und benannt sowie die Aufklärung eingefordert. In Anlehnung an diesen Gedenkzug fand am Donnerstag eine Demonstration unter dem Motto „Kein nächstes Opfer“ statt. Die Demonstration endete am Nachmittag bei der offiziellen Gedenkveranstaltung am Halitplatz, deren zentrales Moment die Rede der Familie Yozgat bildet.

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